Freitag, 22. August 2014

Kälte

Allein. Plötzlich allein.

Es ist so dunkel. Wie konnte das nur geschehen? Ich erinnere mich nur noch an das laute Gelächter, die bösen Rufe und das plötzliche Stechen im Rücken. Der Verlust des Gleichgewichts. Nun ist es ruhig. Es sind diese Momente, die einen so verwirren, die einen kurzzeitig den Sinn zur Realität nehmen. Sollte ich nicht wissen, was geschehen ist? Es war doch grad erst noch... was war nur?

Die Erinnerung kehrt langsam zurück, wie ein Glas Seewasser sich langsam von den Schwebstoffen befreit, die auf den Grund sinken, bis das Wasser klar wird. Seewasser. Das um mich herum das ist Seewasser! Ich erinnere mich an das laute Krachen, beim Auftreffen auf die Wasseroberfläche, viel härter und lauter, als ich es in Erinnerung hatte, von den unzähligen Ausflügen zur Bahía Grande, wie wir sie als Kinder nannten. Vielleicht lag es am Seegang, vielleicht auch an der realen Gefahr.

Man sagt, in solchen Momenten verläuft alles in Zeitlupe. Ich glaubte das nie. Ich denke, es liegt am Adrenalin, dass die Gedanken schneller werden lässt, sich überschlagen lässt, so dass Fakten in Millisekunden durchdacht werden können. Gedanken, die sonst Minuten dauern würden, sind in kürzester Zeit verarbeitet, was die Zeit langsamer erscheinen lässt. Dabei ist nur die Verarbeitung schneller, sozusagen der umgekehrte Fall zu einem Abend mit einer Geliebten, welcher diese Entspannung verursacht, wodurch alle Empfindungen und Gedanken langsamer vonstatten gehen.

Ich erschrecke, wegen meiner abdriftenden Gedanken und die Realität greift mich wieder mit voller Härte. Ich bin untergetaucht, meine Beine und Hände sind gefesselt, die Kälte der See fängt bereits an mich zu lähmen und möglicherweise ist dies mein Ende. Ein Ende in mich immer fester umarmender Dunkelheit. Ich sinke aufgrund der Kanonenkugel, die der erste Maat äußerst sorgfältig eingewickelt hatte und an meine Beine gebunden hatte, immer tiefer.

Heute morgen hätte ich über den ersten Maat im Stillen noch gelacht, doch nun ist wohl er es, der in diesem Moment laut und widerlich lacht. Heute morgen in der Koje war ich mir nicht im Geringsten bewusst, was mich heute noch erwarten würde. Ich bin der erste Kanonier, der Señora de las Garcia, das Flaggschiff der Entdeckerflotte der spanischen Krone. Meine Tagesaufgabe war die Einteilung der Schichten an den Kanonen, eine Inspektion der Vorräte und ob der junge Smutje nicht schon wieder in ihm fremdes Gefilde geschnuppert hat. Der junge Koch wollte wohl doch lieber Soldat werden. Doch alles kam anders. 

Schon morgens wurde ich direkt vor meiner Kajüte abgeführt und vor ein eilig inszeniertes Militärgericht zitiert. Der Vorwurf? Der schwerwiegendste aller Vorwürfe, namens Meuterei. Ich soll den Abend zuvor bei zu vielen Krügen Met das Stürzen des Kapitäns vorgeschlagen haben und in der gesamten Besatzung um Mitstreiter geworben haben. Ich wollte angeblich die Kontrolle über das Schiff erlangen, um das Schiff und damit sowohl Fracht und Besatzung zu einem Kaperschiff zu machen und so auf eigene Faust in den südatlantischen Gewässern reich werden. Als Beweis hielt man mir eine, zugegeben sehr schöne, Piratenflagge vor die Nase, als auch die Geständnisse angeblicher Komplizen, die wohl unter Folter erzwungen worden waren.

Meine Unfähigkeit unter Druck zu argumentieren war wohl mein letzter Sargnagel. Ich war nicht einmal dazu gekommen zu erkennen, wie einfach die Lösung dieses Rätsels war. Denn schon am ersten Tag meines Dienstes an Bord war mir klar geworden, dass der Kapitän des Schiffes in Wirklichkeit zufällig der Vater meiner großen Liebe war. Sophie kannte ich zwar erst kurz, doch wir waren uns völlig verfallen. Entgegen der Erwartungen des Vaters, dass die Tochter den Admiral Quintela Garcia ehelichen würde, hielt sie an mir fest, allen zornigen Ausbrüchen und Betteleien ihres Vaters zum Trotz. Nun, sollte ich also einen selbstverschuldeten, ehrlosen Tod sterben, fernab der Heimat und jeder Chance auf ein unabhängiges Gericht.

Schon beim letzten Landgang, wir halfen einem Schiff der Flotte bei der Ausräucherung einer Population lästiger Eingeborener, gab es schon verschiedene Andeutungen des Kapitäns, die ich jedoch in den Wind blies und ignorierte. Ich bildete mir doch tatsächlich ein, dass ich bei Ihm schlussendlich doch etwas familiären Schutz genoss, aufgrund der Beziehung zu seiner Tochter.

Als ich mir gewahr werde wie blitzschnell ich erneut Unnützes denke und darüberhinaus begriff, dass ich in Wirklichkeit schon sicher 8 Fuß unter der Oberfläche bin, versuche ich mich mit aller Kraft gegen die Fesseln zu stemmen. Es ist eine sinnlose Idee, da ich mir der Stärke der Seile und der Fähigkeit des Ersten Maates klar war, denn er würde keinen schlechten Knoten binden. “Doch, vielleicht nur heute nicht, möglicherweise wegen der Aufregung...”

Mit jeder Sekunde die nun verstreicht, werden meine Anstrengungen sinnloser und verbrauchen auch den immer schneller abnehmenden Sauerstoffvorrat in meinem Blut. Selbst wenn ich es jetzt noch schaffen sollte die Fesseln zu lösen, werde ich den Weg zur Oberfläche nicht lebend überstehen. Mein Herz schlägt so schnell, wie damals die Trommeln bei unserem Auslauf aus dem Hafen von San Fernando.

Noch ist der Atemreflex nicht wahnsinnig machend genug und noch bleibt mir etwas Zeit. Ein wenig Zeit. Doch mein Schicksal ist unausweichlich. Sie bringt mich um den Verstand, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, die mir widerfährt. Oben sitzt der Teufel von Kapitän und lacht sich ins Fäustchen, dass sein Plan klappt.

Vielleicht kann ich von Glück reden, dass mir diese Welt ab jetzt erspart bleib? Jeder stirbt, richtig? Dann halt nun ich. Ich will daran glauben, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben. Ich werde gerächt werden. Und meine Sophie wird dennoch glücklich, ich weiß, sie wird sich vom Vater abwenden und das trügerische Spiel durchschauen, so war doch Ihre überaus hohe Intelligenz der Grund, warum ich niemals eine andere Frau auch nur noch ansehen mochte.

Nun kommt der Moment, den ich immer fürchtete. Lag ich doch manchmal im Bett und dachte über diesen Moment nach. Sogar meine Militärkarriere hätte ich beinahe an den Nagel gehängt deshalb: Ertrinken. Wie grausam es doch sein muss und wie nahe ich diesem Schicksal doch auf einer Galeone sein werde.

Der Atemreflex wird immer größer. Unerträglich groß. Es ist sinnlos dagegen anzukämpfen und doch muss ich, ich muss, ich muss. Der Sauerstoffmangel beschwört mich, langsam wird die Barriere zum erlösenden Einatmen geringer, nein, geradezu verführerisch.

Mit einem Mal lasse ich los, atme ein, atme Wasser, überall Wasser, die Kälte ist nun nicht mehr nur um mich herum, sondern auch in mir, dort wo sie nie zuvor zu spüren war. Entgegen meiner Erwartung des Nachts, werden die Qualen nicht schlimmer, sondern bessern sich. Es ist ein sanfter Ausklang. Langsam wird es dunkler und ich zufriedener.

Ich schmunzle noch einmal über die Sinnlosigkeiten des Lebens, die mir das Leben gekostet haben und an denen sich der lachhafte Kapitän noch immer so klammert. Solch ein Ringen nach Nichts.

So sei es, ich kehre heim in mein neues ewiges Zuhause weit unter mir.
Kein Ende des Nichts in Sicht.
Voller Zufriedenheit.
Ich.
Sophie.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen