Sonntag, 31. August 2014

Träume

Mit bis zum Hals klopfendem Herzen und der merkwürdigen Alptraummusik, die rauschendes Blut in den Ohren erzeugt, wachte sie mitten in der Nacht auf. Die fünfte Nacht in Folge und jedes Mal derselbe, furchterregende Traum.
Sie stand in einem weiß gekachelten Raum, nur mit einem Operationshemd bekleidet. Sie fror erbärmlich und hatte furchtbare Angst. Das Schlimmste war, dass sie sich dabei auch noch ansehen konnte, denn ihr gegenüber befand sich ein Spiegel. So einer, den sie auch immer in diesen Filmen hatten, wenn Leute verhört wurden. Sie glaubte beinahe, die Menschen hinter dem Spiegel sehen zu können, aber es waren nur Schatten ihrer eigenen Angst.
Am Handgelenk trug sie ein blaues Plastikband, ein Name, den sie nie wirklich lesen konnte, stand darauf. Daneben eine Nummer und merkwürdige Zeichen. Sobald sie versuchte genauer hinzusehen, verschwamm die Schrift vor ihren Augen. Und immer wenn sie erwachte, konnte sie sich nur noch an die Farbe des Bandes erinnern. Blau. Oder doch grau?
Grelles Licht leuchtete sie von allen Seiten an, wie Scheinwerfer auf einer Bühne, es gab keine Schatten, keinen Ort, an dem sie sich hätte verstecken können und keine Möglichkeit sich auszuruhen, denn das grelle Licht drang durch ihre geschlossenen Augenlieder und hielt sie wach.
Sie schrie sich die Lunge kaputt, schlug gegen das Glas des Spiegels, aber es nützte nichts. Niemand kam, stundenlang, oder vielleicht auch tagelang, war sie in diesem Raum gefangen. Ihr Zeitgefühl war schon lange verschwunden.
Es gab keine Tür, sie konnte jedenfalls niemals eine finden. Irgendwann muss sie aber dort raus gekommen sein, denn es gab immer einen Szenenwechsel.
Sie lag plötzlich auf einem kalten Metalltisch, als wäre sie tot und müsste noch obduziert werden. Aber sie lebte und die Menschen, die sich über sie beugten schienen das auch zu wissen, denn sie war mit Händen und Füßen an den Tisch gefesselt.
Immer und immer wieder träumte sie, wie sie mit Nadeln traktiert, wie Proben von ihr entnommen wurden. Sie wurde mit Skalpellen verletzt und dann beobachtet. Ihre Schreie interessierten nicht, sie starrten immer nur auf die Wunden.
Irgendwann sah sie selbst hin, als ihr Arm zum wiederholten Mal aufgeschnitten wurde. Der Traum dämpfte den Schmerz auf ein erträgliches Niveau, doch sie hörte sich selbst furchtbar gequält schreien.
Die Wunde lag klaffend und tief vor ihnen offen. Sie schienen auf etwas zu warten und dann sah Liz es. Die Wunde begann sich von selbst zu schließen. Die Ränder begannen weiß zu leuchten, ein heller Schmerz brannte in ihrem Arm. Plötzlich zog sich die Haut samt Muskeln zusammen und verschlossen die Wunde wieder. Ganz ohne eine Narbe zu hinterlassen. Nichts war mehr zu sehen.
Und immer wachte sie auf, wenn eine der Personen sagte, dass sie sie töten würden um zu sehen, ob sie wieder aufwachen würde. Sie setzten das Messer an ihren Hals, sie spürte den ersten glühenden Schmerz und lag dann schweißgebadet in ihrem Bett.

Schwer atmend setzte sie sich in ihrem Bett halb auf und starrte in die Dunkelheit um sich herum. Schwaches Mondlicht drang durch den kleinen Spalt, den die Fensterabdeckung offen ließ.

Freitag, 22. August 2014

Kälte

Allein. Plötzlich allein.

Es ist so dunkel. Wie konnte das nur geschehen? Ich erinnere mich nur noch an das laute Gelächter, die bösen Rufe und das plötzliche Stechen im Rücken. Der Verlust des Gleichgewichts. Nun ist es ruhig. Es sind diese Momente, die einen so verwirren, die einen kurzzeitig den Sinn zur Realität nehmen. Sollte ich nicht wissen, was geschehen ist? Es war doch grad erst noch... was war nur?

Die Erinnerung kehrt langsam zurück, wie ein Glas Seewasser sich langsam von den Schwebstoffen befreit, die auf den Grund sinken, bis das Wasser klar wird. Seewasser. Das um mich herum das ist Seewasser! Ich erinnere mich an das laute Krachen, beim Auftreffen auf die Wasseroberfläche, viel härter und lauter, als ich es in Erinnerung hatte, von den unzähligen Ausflügen zur Bahía Grande, wie wir sie als Kinder nannten. Vielleicht lag es am Seegang, vielleicht auch an der realen Gefahr.

Man sagt, in solchen Momenten verläuft alles in Zeitlupe. Ich glaubte das nie. Ich denke, es liegt am Adrenalin, dass die Gedanken schneller werden lässt, sich überschlagen lässt, so dass Fakten in Millisekunden durchdacht werden können. Gedanken, die sonst Minuten dauern würden, sind in kürzester Zeit verarbeitet, was die Zeit langsamer erscheinen lässt. Dabei ist nur die Verarbeitung schneller, sozusagen der umgekehrte Fall zu einem Abend mit einer Geliebten, welcher diese Entspannung verursacht, wodurch alle Empfindungen und Gedanken langsamer vonstatten gehen.

Ich erschrecke, wegen meiner abdriftenden Gedanken und die Realität greift mich wieder mit voller Härte. Ich bin untergetaucht, meine Beine und Hände sind gefesselt, die Kälte der See fängt bereits an mich zu lähmen und möglicherweise ist dies mein Ende. Ein Ende in mich immer fester umarmender Dunkelheit. Ich sinke aufgrund der Kanonenkugel, die der erste Maat äußerst sorgfältig eingewickelt hatte und an meine Beine gebunden hatte, immer tiefer.

Heute morgen hätte ich über den ersten Maat im Stillen noch gelacht, doch nun ist wohl er es, der in diesem Moment laut und widerlich lacht. Heute morgen in der Koje war ich mir nicht im Geringsten bewusst, was mich heute noch erwarten würde. Ich bin der erste Kanonier, der Señora de las Garcia, das Flaggschiff der Entdeckerflotte der spanischen Krone. Meine Tagesaufgabe war die Einteilung der Schichten an den Kanonen, eine Inspektion der Vorräte und ob der junge Smutje nicht schon wieder in ihm fremdes Gefilde geschnuppert hat. Der junge Koch wollte wohl doch lieber Soldat werden. Doch alles kam anders. 

Schon morgens wurde ich direkt vor meiner Kajüte abgeführt und vor ein eilig inszeniertes Militärgericht zitiert. Der Vorwurf? Der schwerwiegendste aller Vorwürfe, namens Meuterei. Ich soll den Abend zuvor bei zu vielen Krügen Met das Stürzen des Kapitäns vorgeschlagen haben und in der gesamten Besatzung um Mitstreiter geworben haben. Ich wollte angeblich die Kontrolle über das Schiff erlangen, um das Schiff und damit sowohl Fracht und Besatzung zu einem Kaperschiff zu machen und so auf eigene Faust in den südatlantischen Gewässern reich werden. Als Beweis hielt man mir eine, zugegeben sehr schöne, Piratenflagge vor die Nase, als auch die Geständnisse angeblicher Komplizen, die wohl unter Folter erzwungen worden waren.

Meine Unfähigkeit unter Druck zu argumentieren war wohl mein letzter Sargnagel. Ich war nicht einmal dazu gekommen zu erkennen, wie einfach die Lösung dieses Rätsels war. Denn schon am ersten Tag meines Dienstes an Bord war mir klar geworden, dass der Kapitän des Schiffes in Wirklichkeit zufällig der Vater meiner großen Liebe war. Sophie kannte ich zwar erst kurz, doch wir waren uns völlig verfallen. Entgegen der Erwartungen des Vaters, dass die Tochter den Admiral Quintela Garcia ehelichen würde, hielt sie an mir fest, allen zornigen Ausbrüchen und Betteleien ihres Vaters zum Trotz. Nun, sollte ich also einen selbstverschuldeten, ehrlosen Tod sterben, fernab der Heimat und jeder Chance auf ein unabhängiges Gericht.

Schon beim letzten Landgang, wir halfen einem Schiff der Flotte bei der Ausräucherung einer Population lästiger Eingeborener, gab es schon verschiedene Andeutungen des Kapitäns, die ich jedoch in den Wind blies und ignorierte. Ich bildete mir doch tatsächlich ein, dass ich bei Ihm schlussendlich doch etwas familiären Schutz genoss, aufgrund der Beziehung zu seiner Tochter.

Als ich mir gewahr werde wie blitzschnell ich erneut Unnützes denke und darüberhinaus begriff, dass ich in Wirklichkeit schon sicher 8 Fuß unter der Oberfläche bin, versuche ich mich mit aller Kraft gegen die Fesseln zu stemmen. Es ist eine sinnlose Idee, da ich mir der Stärke der Seile und der Fähigkeit des Ersten Maates klar war, denn er würde keinen schlechten Knoten binden. “Doch, vielleicht nur heute nicht, möglicherweise wegen der Aufregung...”

Mit jeder Sekunde die nun verstreicht, werden meine Anstrengungen sinnloser und verbrauchen auch den immer schneller abnehmenden Sauerstoffvorrat in meinem Blut. Selbst wenn ich es jetzt noch schaffen sollte die Fesseln zu lösen, werde ich den Weg zur Oberfläche nicht lebend überstehen. Mein Herz schlägt so schnell, wie damals die Trommeln bei unserem Auslauf aus dem Hafen von San Fernando.

Noch ist der Atemreflex nicht wahnsinnig machend genug und noch bleibt mir etwas Zeit. Ein wenig Zeit. Doch mein Schicksal ist unausweichlich. Sie bringt mich um den Verstand, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, die mir widerfährt. Oben sitzt der Teufel von Kapitän und lacht sich ins Fäustchen, dass sein Plan klappt.

Vielleicht kann ich von Glück reden, dass mir diese Welt ab jetzt erspart bleib? Jeder stirbt, richtig? Dann halt nun ich. Ich will daran glauben, dass solche Taten nicht ungesühnt bleiben. Ich werde gerächt werden. Und meine Sophie wird dennoch glücklich, ich weiß, sie wird sich vom Vater abwenden und das trügerische Spiel durchschauen, so war doch Ihre überaus hohe Intelligenz der Grund, warum ich niemals eine andere Frau auch nur noch ansehen mochte.

Nun kommt der Moment, den ich immer fürchtete. Lag ich doch manchmal im Bett und dachte über diesen Moment nach. Sogar meine Militärkarriere hätte ich beinahe an den Nagel gehängt deshalb: Ertrinken. Wie grausam es doch sein muss und wie nahe ich diesem Schicksal doch auf einer Galeone sein werde.

Der Atemreflex wird immer größer. Unerträglich groß. Es ist sinnlos dagegen anzukämpfen und doch muss ich, ich muss, ich muss. Der Sauerstoffmangel beschwört mich, langsam wird die Barriere zum erlösenden Einatmen geringer, nein, geradezu verführerisch.

Mit einem Mal lasse ich los, atme ein, atme Wasser, überall Wasser, die Kälte ist nun nicht mehr nur um mich herum, sondern auch in mir, dort wo sie nie zuvor zu spüren war. Entgegen meiner Erwartung des Nachts, werden die Qualen nicht schlimmer, sondern bessern sich. Es ist ein sanfter Ausklang. Langsam wird es dunkler und ich zufriedener.

Ich schmunzle noch einmal über die Sinnlosigkeiten des Lebens, die mir das Leben gekostet haben und an denen sich der lachhafte Kapitän noch immer so klammert. Solch ein Ringen nach Nichts.

So sei es, ich kehre heim in mein neues ewiges Zuhause weit unter mir.
Kein Ende des Nichts in Sicht.
Voller Zufriedenheit.
Ich.
Sophie.

Entscheidungen

Der laue Sommerwind raschelte in den Baumkronen und ließ das Licht in ihren Blättern tanzen. Das grüne Blätterdach leuchtete in der Sonne. Es lag ein Geruch von tausenden Blüten in der Luft, als sie aus dem  Halbschatten der Bäume trat und mit schnellen Schritten zu ihrem üblichen Treffpunkt hinüberging. Ihr blaues Sommerkleid bauschte sich im Wind und ließ einen kurzen Blick auf ihre schlanken Beine zu. In ihrer Hand trug sie eine kleine rote Tasche mit einer silbernen Schnalle, ihr braunes Haar glänzte beinahe golden in der Sonne.

Von seiner Stelle aus konnte er die ganze Wiese überblicken und wie immer wartete er bereits auf sie, blickte ihr ruhig und gelassen entgegen. Sie jedoch, offenbar aufgewühlt von starken Emotionen, rannte beinahe die letzten Meter. Dann blieb sie abrupt vor ihm stehen und warf sich weinend ins Gras. Er ließ sie gewähren und wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Erst nach einer Weile hob sie den Kopf von den Armen und wischte sich über das tränennasse Gesicht, dann sah sie ihn an. Er sagte nichts, wartete still ab und sie brach erneut in Tränen aus. Diesmal beruhigte sie sich schneller, atmete einmal tief durch und begann zu sprechen.

„Mein Vater hat mir verboten weiter hierher zu kommen. Er sagte, du seist schlecht für mich und hieltest mich davon ab, mich auf meine Zukunft zu konzentrieren.“ Sie sah ihn an, doch er antwortete nicht. „Er will, dass ich Lukas heirate. Du weißt schon, der Sohn vom Bäcker. Kannst du dir das vorstellen?“ Ihr empörter Blick sprach Bände darüber, was sie von diesem Vorschlag ihres Vaters hielt.

Für eine Weile sahen sie stumm in die Ferne, vorbei an Blumen und Gräsern, die sich im Wind wiegten. Bienen summten durch die Luft und Schmetterlinge flogen ihren undurchschaubaren Zick-Zack-Flug von Blüte zu Blüte. Einer ließ sich auf ihm nieder und er hielt ganz still, um ihn nicht zu verscheuchen. Sie sah zu, wie der Schmetterling die Flügel langsam auf und zu klappte um sich in der Wärme der Sonnenstrahlen neue Energie zu holen. Die zarten Schüppchen auf den Flügeln schillerten in allen Farben des Regenbogens, eine Schönheit, die durch eine flüchtige Berührung vollkommen zerstört werden kann. Der Schmetterling hielt noch einen Moment still, dann flog er unvermittelt davon.

Sie sah ihn wieder an und es brach wieder aus ihr heraus. „Ich kann Lukas nicht heiraten! Was soll denn aus uns werden? Du bist doch alles für mich, es gibt niemanden sonst, außer dir!“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen, die Tränen blieben diesmal jedoch aus. Leises Schluchzen perlte aus ihrem Innersten wie die Tropfen aus einem undichten Wasserhahn.

Er schwieg weiterhin, wusste er doch, dass er nichts sagen konnte, um sie zu beruhigen. Ihr Vater wollte nur das Beste für sie, das war ihm mehr als klar. Deshalb regte er sich auch nicht über dessen Entscheidung auf. Eine gesicherte Zukunft mit dem Bäckersohn war nicht die schlechteste Wahl, die sie treffen konnte. Sie sah das dagegen völlig anders.

„Ich kann nicht mehr so weitermachen, nicht länger so tun, als wäre nichts gewesen, während du so weit weg von mir bist.“ Sie sprach jetzt ruhig, sah ihn aber dabei nicht an. Ihr blasses Gesicht glänzte von getrockneten Tränen und in ihren Augen spiegelte sich die Sonne.

Ihr leerer Blick schweifte in die Ferne, über die Wiese und die Felder dahinter hinweg. Die Grashalme nickten leicht mit den Köpfen im Wind, als würden sie ihren Entschluss befürworten. Mit einer Hand zog sie ihre Tasche näher an sich und nestelte am Verschluss herum.

Nach einer Weile, zog sie ein Messer aus der Tasche hervor. Er sah sie erstaunt an, war jedoch unfähig sich zu bewegen. Sie blickte wieder zu ihm, sah ihn direkt an und lächelte. Ohne ein weiteres Wort zog sie sich die Klinge über die Unterarme und sofort quoll dickes Blut aus den Schnitten hervor.

„Mehr als das wollte ich nie, weißt du? Ich wollte immer nur bei dir sein!“ Das Blut lief über ihre Arme, durchtränkte langsam ihr Kleid und färbte das Gras unter ihr rostrot. Es floss auf den Boden, in die dunkle Erde und versickerte darin.

Sie sah ihn unentwegt an, anfangs mit festem Blick, doch je mehr Zeit verstrich, desto weicher wurde ihr Blick. Langsam schien sie sich zu entfernen, irgendwohin zu gleiten, wo sie nicht gefunden werden konnte. Während sie sich bequem neben ihn legte, lächelte sie und flüsterte leise „Ich bin gleich bei dir.“ Dann schloss sie die Augen zum letzten Mal.

Die glatte Oberfläche des Grabsteins glänzte ungerührt in der Sonne.